Tierärztin Selina Kasper im Ötztal 2021

Unser Weg führt uns wieder einmal in die Alpen. Ein beliebtes Urlaubsziel und egal, wo man hinkommt, der touristische Schwerpunkt liegt auf den Sommermonaten bzw. im Wintersport. Als Tourist möchte man in seinem Urlaubsgebiet angekommen und sich erholen. Maximal möchte man sich über die Verpflegung, die nächste Tour oder auch die nächste Abfahrt Gedanken machen. Damit wir unbeschwert Urlaub mache können, sind viele Menschen hinter den Kulissen tätig. Und zwar nicht nur zu unserer Urlaubszeit, sondern das ganze Jahr über. Dahinter steckt natürlich eine Menge Arbeit, die ganze Familien ernähren muss. Und gerade die Menschen in touristischen Alpengebieten müssen noch einen Tick flexibler sein als in vielen anderen Regionen. Man kann sich vorstellen, dass beispielsweise der Fahrer eines Pistenbullys im Sommer eine Alternative benötigt. Also Flexibilität ist alles!

Für uns beginnt die Anreise meist mit einem typischen Bild, die Berge rücken ins Blickfeld und mit ihnen die Weideflächen oder Almen voller Kühe, Ziegen oder Schafe. Ohne diesen Anblick würde definitiv etwas fehlen.

Manche Urlauber möchten auch gerne ihre Haustiere in den Urlaub mitnehmen. Mittlerweile ist das bereits in vielen Pensionen/Hotels und Ferienwohnungen gestattet. Für beide Varianten – also die Tiere, die vor Ort versorgt werden müssen, als auch die Tiere der Urlauber, kommt der örtliche Tierarzt ins Spiel.

Bereits im vergangenen Sommer habe ich die Ötztaler Tierärztin Selina Kasper einen Tag lang begleitet. Selina hat ihre Praxis geographisch gesehen genau in der Mitte vom Tal, nämlich in Längenfeld, hat aber ihre Kunden/Patienten im ganzen Tal. Wie sagte sie während wir im Auto zum Termin fuhren: „Die meiste Zeit verbringe ich im Auto und ich weiß nicht, was in den nächsten Stunden noch reinkommen wird.“ Als Tierarzt bzw. Tierärztin muss man sehr spontan sein. Deshalb hat sie auch nur kurze feste Sprechstunden in ihrer Praxis und arbeitet mit vorherigen Vereinbarungen bzw. versorgt die Notfälle. Selina ist 30 Jahre jung, hat Veterinärmedizin in Wien studiert und ist seit Juni 2020 selbstständig. Vorher gab es in Längenfeld bereits einen Tierarzt. Dieser ging in den wohlverdienten Ruhestand und sie konnte glücklicherweise die Praxis übernehmen. Schon von Beginn an hieß es „Einfach machen und Erfahrungen sammeln“. Auf Grund der vielen Kühe, Schafe und Ziegen im Tag spezialisierte sie sich auf Großvieh. Trotzdem wird aber natürlich auch Kleinvieh behandelt. Im Jahr 2000 (Tirolatlas) gab es im Ötztal (Umhausen, Längenfeld und Sölden) 1645 Kühe, 207 Pferde, 729 Schweine und 8933 Schafe und Ziegen – also eine ganze Menge zu tun.

An besagtem Tag im September 2021 waren wir also zusammen unterwegs. Selina war bereits in der Praxis, als ich hinzukam. Sie führte einen Verbandswechselbei einem Hund durch. Dieser hatte sich die Kralle abgerissen und wurde bereits am Vortag behandelt. Ois isi und ihm geht es sicherlich wieder gut. Im Anschluss wurde Medizin (quasi Apothekendienst) an einen Bauer ausgehändigt. Dieser Vorgang gehört ebenfalls zum Job, entweder im Nachgang einer Behandlung oder wenn Bauern ihre Tiere selbst behandeln. Selbstverständlich immer nach Absprache. Das Auto wurde nun um die verbrauchten Materialien des Vortags aufgefüllt und schon ging es zu unserem ersten Einsatz: Fleischbeschau nach einer Schlachtung. Es handelte sich dabei um vier Schweine und ein Pferd. Selina untersuchte die Organe wie Lunge und Leber, füllte einige Formulare aus und gab die Freigabe mittels Stempel. Ohne die Freigabe durch einen Tierarzt/-ärztin gibt kommt kein Fleisch auf den Teller. Dazu wird übrigens eine Zusatzausbildung der Veterinäre benötigt. Innerhalb von ca. 15min war das Thema durch und wir fuhren zum unserem ersten (lebenden) Patienten: Einem kleinen Lamm, welches noch einen kleinen Teil der Nabelschnur hatte. Man muss wissen, dass diese normalerweise nach der Geburt abfällt. Nicht in diesem Fall, was zu einer Entzündung führte. Der Rest der Nabelschnur wurde abgebunden (damit sich die Entzündung nicht weiterverbreiten kann), fällt in den Folgetagen automatisch ab und das Lamm wächst ganz normal auf.
Für Selina und mich hieß es wieder ins Auto und auf Richtung Sölden zu einer Besamung. Wer jetzt klassisch denkt: Bulle auf Kuh = Kalb. No way. Es gibt eine Samenbank, aus der der Bauer Samen auswählen kann, der von der Tierärztin bestellt wird. Sobald er vor Ort ist, bekommt die Kuh ihn nach einer gewissen Zeit, alles genaustens geregelt/geplant. Hängt natürlich z. T. auch mit den Züchtungen der Tiere zusammen. Die Besamung an sich geht augenscheinlich relativ schnell. Selina meinte nur, dass Kraft und auch Geschick nötig sind. Nachdem das erledigt war, hieß es für uns erst einmal Kräfte sammeln und einen Kaiserschmarrn auf der Gampe Thaya.

Nach dieser Stärkung ging es zurück ins Auto, um zu einem Bauernhof in das 20km entfernte Unterlängenfeld zu fahren. Dort wartete eine Kuh, welche bereits auf dem sogenannten Klauenstand (Hebe- und Haltevorrichtung für Kühe) stand/lag, um an ihrer Klaue operiert zu werden. Die Klaue ist anatomisch ähnlich unserem Finger aufgebaut und kann sich ab und zu entzünden. Dies kann durch unsachgemäße Klauenpflege (ähnlich wie Fingernägel schneiden) passieren. Oder auch durch andere Faktoren. Die Klaue war entzündet und das nicht zu knapp. Selina gab der Kuh eine Betäubung und von den drei dabeistehenden Männern war einer bereits verschwunden und ein weiterer auf Abstand gegangen. Sie konnten es nicht mit ansehen, dass die Kuh augenscheinlich leidet. Dank der lokalen Betäubung hatte die Kuh aber keine Schmerzen. Als die Operation begann – ähnlich blutig, wie bei einem Schnitt in den Finger – wurde das Ausmaß deutlich. Zwei sehr tiefe Entzündungen! Wir konnten es versuchen, aber eine Garantie auf vollständige Genesung konnte Selina nicht geben. Nachdem die OP (auch hier benötigt man sehr viel Kraft) vorbei war, bekam die Kuh noch einen Verband angelegt, eine Spritze gegen die Betäubung inkl. Schmerzmittel und durfte wieder auf die Weide.

Als quasi Assistenz fand ich die OP super spannend und hätte nie gedacht, dass „so eine kleine Wunde“ für das Tier eine sehr schwere Operation ist. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass die Kuh sich leider nicht mehr ganz erholt hat. Aber wir haben alles versucht und der Bauer hatte vor der OP die Wahl. Er hätte die Kuh auch gleich zum Schlachter bringen können und dadurch natürlich die Kosten gespart, aber es wurde zumindest versucht. Nachdem wir das Werkzeug gereinigt und verstaut hatten ging es zu unserem letzten Fall fast um die Ecke. Es war nur bekannt, dass eine Kuh hinkt. Der Verdacht auf eine Entzündung war also auch hier gegeben. Es war später Nachmittag und die Kühe wurden (etwas früher als sonst) in den Stall getrieben. Auf die Entfernung konnte man schon erkennen, dass eine Kuh etwas schwerfälliger ging. Auch sie wurde in den Klauenstand geführt und Selina untersuchte die Klauen. Glücklicherweise wurden keine Entzündungen festgestellt. Selina führte noch eine Klauenpflege (per Hand) durch und ein paar Minuten später konnte die Kuh wieder fröhlich umherlaufen. Vermutlich hatte sich nur etwas zwischen die Klauen geklemmt bzw. war der „Fingernagel“ etwas zu lang.

Als wir in diesem Jahr wieder vor Ort waren, konnte ich Selina wieder ein paar Stunden begleiten. Zum einen standen Kastrationen bei Geschwisterkatzen auf dem Programm. Zwei Kater und eine Katze sollten es sein. Bei den Katern war es relativ easy: Betäuben, Hodensack auf, Hoden raus, Samenstrang durchtrennen, wieder alles vernähen. <- so ganz grob gesagt. Wenn anatomisch alles stimmt. Der erste Kater war allerdings ein Zwitter – er hatte beide Geschlechtsmerkmale. Das ist schon etwas Besonderes und Selina hatte so etwas auch noch nicht selbst durchgeführt. Die OP verlief ohne Probleme. Beim zweiten Kater durfte ich sogar (natürlich unter Aufsicht) assistieren und einen Stich beim Zunähen durchführen. Einfach, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was es bedeutet und welche Kraft man aufwenden muss, um mit der Nadel durch die Haut zu kommen. Bei der Katze war die Operation etwas aufwendiger, da die Eierstöcke im Bauchraum liegen und entsprechend erst der Bauch aufgeschnitten werden musste.

Über den Tag hinweg wurden noch ein paar Kühe untersucht und z. T. mit Medikamenten behandelt. Wir waren schon auf dem Weg nach Hause, als das Telefon klingelte. Ein Bauer benötigt Hilfe bei einer Kalbsgeburt. Angekommen beim Bauern ging es schnell: Selina drückte das Köpfchen vom Kalb (noch in der Kuh) nach unten und der Bauer und ich zogen an den Beinen vom Kalb. Immer auf Kommando bzw. im Takt der Wehen, bis das Kälbchen schließlich herauskam. Da es sich bei der Kuh um ihr erstes Kalb handelte und dieses auch noch recht groß war, war von allen Beteiligten ganzer Körpereinsatz gefragt! Fragt nicht, da wirken Kräfte. Umso schöner war es, als das Kalb das erste Mal atmete und Laute von sich gab. Hammer!

Im Nachhinein scheint einem die Kuh sogar dankbar zu sein, so hatte ich zumindest das Gefühl. Und erst recht, wenn sie ihren Nachwuchs das erste Mal erschnuppert und abschlecken kann. Ums mal emotional zu sagen: Schon ein schönes Gefühl! Und definitiv (m)ein Highlight!

Des Weiteren kann ich in meiner kurzen Zeit als Assistenz überhaupt nicht behaupten, dass sich die Bauern keine Gedanken zu ihren Tieren machen und es nur um den reinen Profit geht. Genau das Gegenteil war der Fall. Da besteht meistens schon eine Verbindung, so mein Eindruck.

In einem Tal wie dem Ötztal ist es nicht immer einfach für eine Frau sich durchzusetzen. Gerade bei der doch etwas konservativen Bauernschaft herrscht manchmal noch der Glaube, dass es sich bei dem Beruf des Tierarztes um einen Männerberuf handelt. Das wird man auch nicht so schnell rausbekommen, aber ihr könnt mir glaube, Selina hat es geschafft. Nach einem Jahr harter Arbeit hat sie sich den nötigen Respekt verdient und macht ihren Job großartig. Ich gehe sogar soweit und sage: Das Ötztal kann froh sein, so eine junge und engagierte Tierärztin zu haben!
Ich selbst bin sehr gespannt, welche Projekte sie als nächstes stemmen wird und bedanke ich mich für diese tollen und erfahrungsreichen Tage bei ihr.

Update:

Das kann ich euch nicht vorenthalten: Selina hat nun eine weitere Qualifikation erworben – sie hat die Ausbildung zur Veterinärchiropraktikerin erfolgreich abgeschlossen! Anfang September war es soweit und sie hatte die beiden (international und national) Abschlüsse in der Tasche. Herzlichen Glückwunsch!

Update vom April 2024:

Selina hat es mittlerweile ins Nachbarland Deutschland gezogen, weshalb sie nun nicht mehr als Tierärztin im Ötztal tätig ist.

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